Authentisch sein – wer von uns möchte das nicht? Führungskräfte, Politiker, Sie selbst sollen authentisch sein. Über 60 Prozent der Befragten halten Authentizität für die wichtigste Führungseigenschaft. Bücher und Coaching-Angebote, die Wege zur Authentizität versprechen, haben Hochkonjunktur. Und Sie bekommen ein schlechtes Gewissen (gemacht), wenn Ihr Urlaub nicht authentisch ist: Lernen Sie in fernen Ländern authentische Armut kennen!

In unserer Achtsamkeit einfordernden Gesellschaft erscheint Authentizität als ein Muss. Sei du selbst! lautet das Ziel. Aber ist das überhaupt zu erreichen?

„Werde authentisch!“ als Lebensaufgabe

Authentisch-Sein heißt: Ich bin, der ich bin. Interessanterweise hat sich Jahwe, der alttestamentarische Gott, genau so definiert. Später hat Nietzsche diese statische Authentizität zu einer dynamischen gemacht mit der Aufforderung: „Werde, der du bist!“. Damit haben Sie nun eine anspruchsvolle Aufgabe vor sich: Finden Sie Ihr ganz individuelles Sein, das Ihnen Eigene!

Nehmen Sie für diesen Findungsprozess folgende Zutaten: Selbstbetrachtung, Selbstbezogenheit, Ich-Analyse und Egozentrik sowie jede Menge Lektüre, Trainings und Coachings. Bitte achten Sie dabei auf Ihre Individualität: Als in sich gekehrter Mensch können Sie ebenso authentisch sein oder werden wie als extrovertierter, lautstark auftretender. Besorgen Sie sich außerdem immer wieder die Anerkennung, dass Sie auf Ihrem Weg zum authentisch-Sein auch vorankommen! So gesehen hat das Streben nach Authentizität einen totalitären Beigeschmack.

Authentizität und Rolle sind unvereinbar

Wenn ich in eine Rolle gehe (Berater, Trainer, Politiker, Ehepartner, …), erwarten andere von mir, dass ich diese Rolle gut spiele. Dann kann ich aber nicht mehr authentisch sein, denn ich will ja den Rollenerwartungen genügen: Mich entsprechend kleiden, aufpassen, was ich sage, meine Emotionen kontrollieren etc. Manchmal spüre ich subtil, dass mir meine Rolle Druck macht: Die anderen erwarten ja etwas von mir.

Authentizität erfahre ich, wenn ich meinem Wesen nahekomme. Das erlebe ich, wenn ich mit meinen Enkelkindern zweckfrei spiele, oder wenn ich frei tanze, assoziativ am Klavier msuiziere oder „von Herzen“ eine Melodie singe. Das fällt mir ganz leicht! Schon Goethe kannte die drei Rezepte, Glück zu empfinden: Singe, tanze, spiele! Authentisch sein hat offenbar etwas mit einfach-Sein zu tun. Dann ist meine kleine subjektive Welt mit mir im Einklang.

Wenn das so ist, dann geht das immer weniger zusammen mit einer komplexer werdenden Welt, mit der Individualisierung, dem damit verbundenen Verlust sicherer Bindungen und den wachsenden Widersprüchen des Lebens: Kreuzfahrt und Klimawandel, eigenes Haus und Wohnungsnot, Anspruch und Wirklichkeit. Die stark steigende Zahl der Erschöpften und Therapiebedürftigen und das Boomen von Selbstführung dokumentieren das.

Rebellion als Ausdruck von Authentizität

Die Bindung an sich selbst wird zur einzigen Bindungsmöglichkeit des total Individualisierten. Müsste ich mich als authentischer, echter und eigentlicher Mensch in dieser Welt nicht zunehmend unbehaglich fühlen und entsprechend verärgert und wütend werden, gar rebellisch? Warum verhalten sich dann all die nach Authentizität strebenden Menschen so angepasst?

Entspannen Sie sich also, denn vielleicht macht die Forderung „Werde, der du bist!“ in der heutigen Welt keinen Sinn mehr. Vielleicht geht es darum, das Primat des Ichs aufzugeben, dafür gesellschaftlichen Belangen und dem Erhalt unserer Lebensgrundlagen den Vorrang einzuräumen: Engagement für die Zukunft statt Arbeit am authentischen Selbst. Also doch eher rebellisch als authentisch werden!?

Über den Autor

Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens-und Arbeitspraxis (ilea) in Esslingen. Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit zwei Jahrzehnte als Führungskraft und Projektmanager in der Software-Industrie. Weitere Informationen über Michael Schwartz