„Die Welt nach Corona muss eine andere sein“ – diese Einsicht macht sich auch in Unternehmen und bei ihren Führungskräften breit. Aber wie lässt sich verhindern, dass alle wieder in die eingeübten Effizienz- und Globalisierungsmuster zurückfallen? Um den Shareholder Value zugunsten des Stakeholder Values zurückzudrängen, sind Führungskräfte gefragt, die zukunftsfähig führen. Aber was genau ist das?

Auf der Basis jahrzehntelanger sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Forschungen, Studien und Befunde lautet meine Antwort: Next Level Leadership. Die Essentials dieses Konzepts möchte am Beispiel einiger Artikel und Interviews aus der Wochenzeitung DIE ZEIT verdeutlichen.

Dabei möchte ich betonen, dass es mir nicht um ein Bewerten oder Einordnen der Interviewten geht. Ich hätte auch andere Protagonisten nehmen können. Die vollständigen Artikel mit Andreas Voßkuhle, scheidendem Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Robert Habeck, Vorsitzendem der Grünen, Frank Appel, Vorstandsvorsitzendem der Deutsche Post AG, und mit Papst Franziskus, sowie den Leitartikel von Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakteur der ZEIT, können Sie als ZEIT-Online-Abonnent nachlesen, wenn Sie den Links folgen.

Zukunftsfähig führen erfordert spezielle Charakterzüge

Now Level Leadership definiert Erfolg ökonomisch: Auf Now Level sind Unternehmen nur erfolgreich, wenn „die Zahlen“ stimmen – sie monetär wachsen und globalisieren. Das wird im Interview mit Frank Appel deutlich. Appel auf die Frage, ob es aus seiner Sicht fair ist, dass er ungefähr das 200-Fache eines Paketzustellers verdient: In dieser Frage ich für mich das Erreichte ausschlaggebend (es folgt eine längere Begründung des ökonomisch Erreichten) … Wie schon gesagt, der richtige Maßstab ist: Gibt es einen Gegenwert? (es folgt eine längere Rechtfertigung des ökonomischen Gegenwerts).

Anders Andreas Voßkuhle: Die Frage: Würden Sie im Rückblick sagen, dass die beruflichen Erfolge, die Sie erlebt haben, auch wärmen? beantworte er so: Nein, Erfolg ist eher kalt. Es ist die Arbeit selbst, die wärmt. Ich werde nicht die beiden schwarzen Autos vermissen, mit denen ich dauernd herumfahren muss, ich werde nicht vermissen, in der ersten Reihe zu sitzen. Für Next Level Leader sind Statussymbole keine Chefsache mehr, sondern Nebensache. Ähnliches gilt für für ihr Macht- und ihr Besitzstreben, die beiden anderen “grenzenlosen” Bedürfnisse.

Now Level Leader verkörpern meist ein großes Ego – oder „starkes Ich“ mit eher starren Haltungen und Einschätzungen. So meint etwa Appel: Diese Pandemie wird die Globalisierung nicht zurückdrehen. Wenn es die Globalisierung, den weltweiten Handel und die Logistik nicht gäbe, wäre unsere Welt in einer weitaus schlechteren Verfassung. Auf die ZEIT-Anmerkung, dass der Boom des Paketgeschäfts auch eine Schattenseite in Sachen Klimaschutz habe, entgegnet Appel: Wenn jeder Konsument selbst losfährt, um Produkte zu kaufen, würde viel mehr CO2 entstehen. Wir gehen davon aus, dass der Online-Handel weiter dynamisch wächst und dies eher zur Nachhaltigkeit beiträgt, als dass es ihr entgegensteht. Eine rechtfertigende Haltung ohne Relativierung, ohne Einordnung in größere Zusammenhänge.

Eine Kunst: Ohne starkes Ego überzeugen

Now Level Leader können durchaus Top-Kräfte sein, sie werden auch weiter gebraucht. Oft findet man bei Ihnen aber eine Überzeugtheit, die ein gefangen-Sein in den eigenen Überzeugungen durchscheinen lässt. Wer in einer Welt wachsender Komplexität und zunehmender Unsicherheiten zukunftsfähig führen will, kommt am Relativieren und Überprüfen seiner Überzeugungen nicht vorbei. So betont Robert Habeck zur Frage der Lehre aus der Corona-Krise: Als Partei denken wir gerade viel darüber nach, was diese Krise für die Politik bedeutet. … Wir sollten uns alle in Frage stellen. Und später: Aber Erfolg macht ja auch blind. Wir haben vielleicht nicht mehr scharf genug hingesehen.

Im Wesentlichen übernehmen Next Level Leader neben der ökonomischen auch gesellschaftliche und ökologische Verantwortung. Habeck: Wenn es eine Lehre (aus der Corona-Krise) gibt, dann die, dass Verantwortung eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Das heißt, es braucht Regeln, die für alle gelten. … Wir brauchen eine qualitative, eingebettete Globalisierung. Die rein quantitative Globalisierung hat fertig. Habeck plädiert weiterhin für ein moralisches Engagement: Nur von warmen Worten ändert sich kein Pflegenotstand. … Regeltreue und Anstand, das sollten die Voraussetzungen für öffentliche Unterstützung (von Unternehmen) sein.

Hinzu kommt: Leader und Manager, die zukunftsfähig führen, gehen routiniert mit Perspektivenwechseln um. Bernd Ulrich etwa beleuchtet in seinem Leitartikel „So nah ist zu nah“ von Corona verdrängte Entwicklungen wie die vermehrte Ausbringung nitrathaltiger Gülle auf heimischen Äckern in den Blick, um China in der Krise verstärkt mit deutschem Schweinefleisch zu beliefern. Dagegen üben sich führende deutsche Wirtschaftsverbände weiter auf Now Level: Die Vorteile einer verflochtenen Weltwirtschaft sind weitaus größer als ihre Nachteile.

Zukünftigen Herausforderungen mit Reife begegnen

Next Level Leader haben ihr „Ich“ mit seinen blinden Flecken reflektiert und kultiviert. Sie erkennen die Begrenztheit ihrer Sicht und ihres Wirkens in der Welt an, akzeptieren ihr relatives Nichtwissen. Ihre Machtausübung ist auf eine Weise zurückgenommen. Voßkuhle auf die Frage Wie führt man einen solchen Haufen? – gemeint ist das Bundesverfassungsgericht: Sie haben als Präsident eigentlich nur eine Chance, Einfluss auszuüben: Sie müssen eine Kultur schaffen, in der man wertschätzend miteinander umgeht, und diese Kultur vorleben.

Das Interview mit Papst Franziskus verdeutlicht weitere Charakterzüge, um zukunftsfähig führen zu können. Dazu gehört die Bescheidenheit. Franziskus: Es wird immer viel erzählt, aber ich bin ein ganz normaler Mensch. Kein bisschen ungewöhnlicher als andere, … ein Mensch, der tut, was er kann. Auf den Schlusssatz des Interviewers: Ich danke Ihnen für dieses Gespräch! – antwortet Franziskus: Ich danke Ihnen, und bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte. Bescheidenheit kann sich entfalten, wenn eine Führungskraft ihr Ego zugunsten des Dienstes an einer größeren Sache zurücknimmt.

Zu den Charaktermerkmalen eines Next Level Leaders zählen schließlich ein feiner, im Wortsinne wertschätzender Humor und Selbstironie. Nochmals Franziskus: … Der römische Dialekt der Plakate war großartig. Den hat nicht irgendeiner von der Straße geschrieben, sondern ein kluger Kopf. – Di Lorenzo: Jemand aus dem Vatikan? – Franziskus: Nein, ich sagte doch: Ein kluger Kopf.

Der Schluss gehört Andreas Voßkuhle mit der kompakten Einsicht: Das Glück, das man im Leben erfährt, ist kein Ereignis, sondern eine Haltung, die man sich täglich neu erarbeiten muss.

 

Über den Autor

Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens-und Arbeitspraxis (ilea) in Esslingen. Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit zwei Jahrzehnte als Führungskraft und Projektmanager in der Software-Industrie. Weitere Informationen über Michael Schwartz