Motivation im Hochleistungs-Sport

„Risiko!“ ruft Bundestrainer Marcel Ewald seinem Schützling Horst Lehr vom Mattenrand aus zu. Der junge Ringer droht im Kampf mit seinem koreanischen Kontrahenten zu unterliegen. Plötzlich dreht Horst überraschend den Spieß doch noch um.

Seit zwei Jahren schon trainiert Marcel, selbst bis dahin noch erfolgreicher Freistil-Ringer, sein 18 Jahre junges Nachwuchstalent in der 57 kg-Klasse.Die beiden verstehen sich blendend und ringen im Training gerne spielerisch miteinander, haben Freude am gegenseitigen Angreifen, auch im wahrsten Sinne des Wortes. Horst hatte bei der Junioren-EM 2017 Bronze geholt, und die WM steht nun ins Haus. Doch Marcel und Horst wollen mehr.

Daher haben sich die beiden auf einen ungewöhnlichen Weg eingelassen: Marcel bringt Erfahrungen darin mit, wie sich intrinsische Motivation nutzen lässt, um individuelle Höchstleistung zu erzielen. Die beiden sind mit dabei, als ich für elf vom Olympiastützpunkt (OSP) Rheinland-Pfalz/Saarland eingeladene Trainer und Athleten aus verschiedenen Sportarten im Mai 2018 ein Webinar anbiete zum Thema „Die Chemie zwischen Trainer und Athlet“.

Interesse weckendes Webinar zum Auftakt

Im Webinar lege ich den Schwerpunkt auf die Tandem-Beziehung. Meine These: Der Athlet bringt Höchstleistung, wenn der Trainer genau weiß, was seinen Schützling motiviert, und wenn der Athlet versteht, wie sein Trainer „tickt.“ Mehrwert entsteht, wenn beide mit ihrer Unterschiedlichkeit konstruktiv umgehen können.

Die Teilnehmer führe ich an das Thema intrinsische Motivation heran. Sie verstehen, dass innere Bedürfnisse natürliche Quellen für Leistung sind, und dass es insgesamt 18 Grundmotive gibt, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. Darüber kann ich nicht nur gut erklären, warum Menschen unterschiedlich sind. Ich kann auch Beziehungskonflikte und unbewusste Geringschätzung von Andersartigkeit bewusst machen.

Gespannt lauschen die Webinarteilnehmer, als ich auf praktische Fragen eingehe: Wie beschreibe ich als Trainer die Herausforderung für meinen Athleten adäquat? Wie kommt das Tandem zu einer gemeinsam erarbeiteten Wettkampf-Strategie mit individuell kalkuliertem Risiko? Oder: Worauf muss ich als Trainer achten, wenn ich meinen Athleten vor dem Wettkampf „motivierend“ ansprechen will? So führt das Webinar systematisch auf einen eintägigen Workshop im August hin. Insgesamt sieben Trainer und Athleten melden sich an, um sich tiefer damit auseinanderzusetzen.

Als Sportler Motivation begreifen lernen

Im Vorfeld des Workshops haben die Teilnehmer einen Online-Fragebogen zur MotivStrukturAnalyse MSA® ausgefüllt. Danach hat Frank Grimm, OSP-Laufbahnberater, jedem Teilnehmer im Rahmen eines zweistündigen Einzelcoachings das Ergebnis erläutert: sein individuelles MotivProfil. Begleitet von erfahrenen Laufbahnberatern zweier Olympiastützpunkte (OSP) leite ich den Workshop, in dem Erfahrungslernen im Mittelpunkt steht. Theorie und Praxis im Wechsel erlauben lebendiges Arbeiten. Die Teilnehmer lassen sich mehr und mehr ein, obwohl sie mit der ihnen eher fremden Motivationspsychologie konfrontiert werden.

So können sie etwa über die Unterschiedlichkeit ihrer Motivausprägungen staunen, die im Raum „aufgestellt“ und damit sichtbar werden. Sie werden in das Geheimnis der „blinden Motivflecken“ eingeweiht, die bei starken Motivausprägungen entstehen können. Außerdem lernen sie, wie sich Trainings- und Wettkampfumfeld an die individuelle Motivation des Athleten anpassen lassen, um dessen Motivation optimal zu entfalten. Ein Einblick in die Analyse von Motivkombinationen führt zum „Tandemprofil“, einer grafischen Darstellung wesentlicher Gemeinsamkeiten und Differenzen pro Motiv zwischen Trainer und Athlet.

In der Schlussbilanz zeigt sich, dass es mir gelungen ist, die Teilnehmer in der anspruchsvollen Thematik „mitzunehmen“. Das lässt sich an Feedbacks festmachen wie „Ich will meiner Familie mein Motivprofil erklären“ oder „Das trage ich zu meinem Landestrainer weiter“. Die Spannung wächst bei der abschließenden Frage, welche der Tandems sich auf ein Coaching einlassen wollen.

Die Chemie im Tandem optimieren

Für Marcel und Horst ist das keine Frage: Sie wollen die Chance nutzen, um sich noch besser für die bevorstehende WM zu rüsten. So finden sie sich 14 Tage später, begleitet von Laufbahnberater Frank Grimm, im ilea-Institut ein. Anhand des Tandemprofils der beiden geht es in die Tiefe. Die Grafik, Ergebnis einer ausgeklügelten Berechnung, zeigt für jedes Motiv auf, ob bei den beiden eine wesentliche Gemeinsamkeit oder Differenz vorliegt. Erst die lebendigen Gespräche mit den Sportlern darüber, die plastischen Beispiele aus der Trainings- und Wettkampfpraxis, bringen „Musik“ in die Analyse der Beziehung der beiden. Mit meiner simultan visualisierten Moderation entsteht so am Flipchart ein praxisbezogener Maßnahmenkatalog, der sich insbesondere aus den Motivdifferenzen speist.

Am Ende der zwei Stunden sind Marcel und Horst begeistert: Marcel will unbedingt den Katalog kurzfristig zur Vorbereitung für die WM zugeschickt bekommen. Horst meint: „Ich dachte nicht, dass wir so unterschiedlich sind“. Und Marcel: „Ich kenne meinen Athleten jetzt deutlich besser.“ Der größte Aha-Effekt für die beiden aber ist, dass Motivdifferenzen keine Hürden darstellen, sondern sich fürs Entwickeln situativer Mikrostrategien nutzen lassen, für Marcel vergleichbar mit dem Zaubertrank aus der Asterix & Obelix-Comicreihe.

Marcel weiß nun um die Unterschiede zwischen ihm und Horst, etwa im Grundmotiv Risiko. Die beiden wollen sich vor dem Wettkampf „strukturiert“ verabreden. Damit Horst genau weiß, was Marcel meint, wenn er ihm „Risiko!“ zuruft, um seinen Kontrahenten niederzuringen – auf dem Weg zu Gold.

Ganz herzlich danke ich den Stadtwerken Bad Kreuznach, die mit ihrem Sponsoring des Nachwuchs-Leistungssports dieses Projekt erst ermöglicht haben.

Über den Autor

Michael Schwartz leitet das Institut für integrale Lebens-und Arbeitspraxis (ilea) in Esslingen. Der Diplom-Physiker arbeitete vor seiner Beratertätigkeit zwei Jahrzehnte als Führungskraft und Projektmanager in der Software-Industrie. Weitere Informationen über Michael Schwartz